…und muss sich dennoch sanft im Wind wiegen und stet im Sturm beugen können.
Die ganze Woche habe ich an einem Thema gearbeitet, über das ich schreiben wollte. Und dann war die Woche ganz anders. Ich hatte keine besonderen Erwartungen. Aber natürlich hat man immer Vorstellungen. Zu einem Termin kam ich zu spät. Nicht weil ich nicht zeitig aufgebrochen bin. Sondern weil viele äußere Umstände, wie Menschen, die das Tempolimit radikal unterschreiten, rote Ampeln, Warten an der Kasse.. usw einfach passierten. Die Schuld der Anderen. Oder ich hätte eben doch früher aufbrechen müssen? Es liegt im Auge des Betrachters, wie man die Dinge bewerten mag.
Heute wollte ich meine Haare schneiden lassen. Aber im Laufe der Woche ist der Eigentümer meines Frisörladens einfach ganz plötzlich verstorben. Natürlich ärgere ich mich – denn nun werden meine Haare nicht geschnitten. Aber im Verhältnis zu dem, was seine Lieben und Angehörigen nun durchmachen, ist mein ungeschnittenes Haar banal und irrelevant. Selbst wenn ich morgen auf eine Hochzeit müsste… was spielt der frisierte Kopf schon wirklich eine Rolle im Verhältnis zu dem, was ihm passiert ist? Müsste ich nun morgen auf eine Hochzeit und wäre ich dann unfrisiert, dann würden aber andere, die von der Sache gar nichts wissen, vielleicht sagen: Jetzt schaut euch mal die an.. das kann ja wohl nicht sein. Wie läuft sie denn rum? Und so liegt auch hier wieder alles… im Auge des Betrachters.
Ich bin ein Mensch, der Struktur braucht, wie die Luft zum Atmen. Ich mag keine Überraschungen. Wenn jemand einfach so bei mir vor der Tür steht und klingelt um Hallo zu sagen, dann mag ich das nicht. Aber ich bin über die Jahre weicher geworden. Mein Bäumchen ist gewachsen und die Wurzel wurde tiefer und der Stamm dicker. So wie ich früher die Tür einfach nicht aufgemacht hätte, weil mir „der Sturm“ zu stark gewesen wäre, so mache ich sie heute auf (wenn ich das Klingeln höre…) und lass mich auf „den kleinen Wind“ ein.
Meine persönliche Erfahrung auf der Matte und neben der Matte hat mich gelehrt: mit einer soliden Wurzel und einem stabilen Stamm schaffe ich eine gesunde Grundlage, für alles, was auf mich zukommt. Ich darf dann aber nicht krampfhaft und feste in meiner Wurzel weilen und an meinen Stamm klammern… sondern ich muss den Ästen erlauben im Wind zu wehen und dem Stamm gewähren, sich ein bisschen zu wiegen. Sonst bricht mein Baum und wird entwurzelt.
Ich mutmaße einmal, dass dieser kleine Vergleich ganz vielen Menschen bekannt ist. Es ist eine alte „Geschichte“. Die eigene Erdung ist wichtig, um fest im Leben zu stehen. Der sichere Stand oder Sitz ist wichtig, um dem Asana die Möglichkeit zu geben, sich im Körper zu entfalten und es somit zu erfahren. Nur wenn wir uns sicher geerdet fühlen, können wir alles darüber hinaus empfangen. Wir müssen aber eine Erdung lernen, die nichts mit krampfhaftem Festhalten zu tun hat – sondern wir müssen die Sanftheit zwischen der Kraft, das Loslassen im Stillstand finden… und das ist die Kunst, eines komplexen Asanas genauso wie einer grossen Herausforderung im Alltag. Die Balance zwischen Kraft und Sanftmut – zwischen Stärke und Stabilität einerseits und Bewegung und Flexibilität andererseits. So wie wir nie wissen, wie sich in diesem Moment das Asana entfalten wird, so wissen wir auch nie, was der nächste Moment des Lebens für uns bereit hält.
Und so wenig es planbar ist, so wunderbar ist es doch.
Kein Plan ist oftmals der beste Plan, wenn ich das Studio betrete und die unterschiedlichen Individuen und ihre Geschichten rund um die Matte empfange. Ohne meinen sicheren Stand könnte ich aber kaum Hilfe sein – und dennoch muss ich mich immer mit dem Wind des einzelnen mitwiegen.