Seit ich denken kann, praktiziere ich Yoga alleine für mich. Das erste Mal auf einer Yogamatte stand ich vor vielen Jahren in einem Fitnessstudio in einem Vorort von New York. In den nächsten Monaten und schließlich Jahren war dann mein Wohnzimmer mein Shala – die Klassen angeleitet von Lehrern wie Steve Ross, Shiva Rea, Bryan Kest und Rodney Yee… um nur ein paar zu nennen. Ich hatte nicht einmal eine Yogamatte – die Parkettböden in den verschiedenen Wohnungen taten es auch.
Die Jahre der „Solo Home Practice“ mit Videos und DVDs zogen ins Land. Das Nette daran: es war immer Musik im Spiel. Durch die „Endlichkeit“ der Quellen kannte ich auch mittelfristig alles auswendig. Irgendwann kam der Tag, wo ich unbedingt einmal „etwas anderes“ machen wollte. Und dann stand ich da – und hatte keine Ahnung, wie ich solch einen Flow für mich alleine sinnvoll aufbaue. So habe ich weiterhin mit den Videos der oben genannten Lehrerinnen und Lehrer praktiziert.
Ein positiver Nebeneffekt, der mir erst viel später bewusst wurde: ich habe automatisch die Sanskrit Namen vieler Asanas gelernt – denn Tag ein und Tag aus hörte ich die Namen; immer im gleichen Kontext, immer identisch.
Ich weiss nicht, ob dazu soviel Disziplin gehörte – eine Videokassette oder DVD in den Player schieben und nachmachen? Ich habe es gemacht, weil es gut tat. Weil ich anschließend wieder besser an meinen Schreibtisch sitzen konnte, um meine Diplomarbeit zu schreiben, weil ich für den Rest des Tages eine verträglichere Person für meinen Chef und die Kollegen war – ja, weil es mich „besser“ machte.
Aber das hat nicht immer gereicht als Motivator um zum gefühlten 1.000 Mal den identischen Flow zu machen. Nach sechs Jahren musste sich etwas ändern.
Wir sind umgezogen und ich habe meinen Büroberuf aufgegeben. Ich habe ein erstes Teacher Training absolviert – und bin dabei mehr zufällig über Ashtanga Yoga gestolpert. Damit habe ich eine Yoga Tradition kennen und lieben gelernt, die mir den Flow quasi aus mir heraus vorgibt. Darüber hinaus habe ich von der Pike auf gelernt, wie man einen sinnvollen Flow zusammen stellt. Für mich persönlich ist das DER Tip hinsichtlich einer eigenständigen Asanapraxis: das Verstehen, was man tut und warum man es tut. Das ist einer meiner wichtigsten Motivatoren, wenn ich jeden Tag auf die Matte komme: Verstehen, was ich tue. Verstehen, warum es sich gut (oder auch mal schlecht) anfühlt.
Nun wurden wir vor einigen Wochen quasi über Nacht alle mehr oder weniger zur disziplinierten „Solo Home Practice“ verdonnert. Wir standen vor der Wahl:
- Ich mach das jetzt ganz allein?
- Ich schalte bei YouTube rein (oder krame alte Tapes aus der Mottenkiste)
- Ich mach eine Yoga (Asana) Pause?
Meine Meinung ist ja, dass die klassischen Ashtangis mit der „Solo Home Practice“ WUNDERBAR zurecht kommen sollten! Dafür bereiten wir uns im Mysore Stil ja quasi vor. Zu sagen „wir üben für den Ernstfall“ hat jetzt ein komisches G’schmäckle! Aber tatsächlich ist die Idee der Mysore Praxis ja, dass wir für uns üben… mehrmals die Woche, weil wir vielleicht nicht täglich ins Shala können oder wollen (und auch nicht müssen). Dennoch weiss ich, dass es für viele unglaublich schwierig ist, die „Home Alone“-Practice diszipliniert durchzuführen.
Deshalb habe ich einmal versucht, aus meinem persönlichen Nähkästchen aufzuschreiben. An dem bastel ich nun seit fast 20 Jahren. Sollte einiges drin sein.
Was mir an dieser Stelle wichtig ist: Nichts von allem was ich schreibe erhebt in irgend einer Weise Anspruch auf absolute Wahrheit oder Richtigkeit. Es sind in den meisten Fällen Gedanken die auf meinen ganz subjektiven und individuellen Erfahrungen beruhen. Die Reise sollte und ist aber für jeden anders!
Ebenso ist mir sehr wichtig: ich weiss, dass einige meiner Vorschläge in gar nicht klassisch sind und zum Teil vielleicht sogar als beleidigend für hochtraditionelle Wege oder Verhaltensvorschläge erachtet werden. Es ist natürlich ebenfalls NICHT meine Absicht, irgendjemanden oder irgend etwas zu beleidigen! Solange niemandem geschadet wird finde ich aber, dass in diesem Fall manchmal doch „der Zweck die Mittel“ heiligt.
Auch für mich gibt es Tage, an denen es einfach schwerer fällt, auf die Matte zu kommen. Dann probiere ich es oft mit ua diesen Dingen:
- Persönlich ist es mir sehr wichtig, dass die körperliche Yoga Praxis (Asana, Pranayama und auch verschiedene Formen der Meditation) morgens statt findet. Ich finde sonst über den Tag zuviele Ausreden, warum ich jetzt keine Zeit mehr habe oder zuviele externe Faktoren haben die Möglichkeit mich abzuhalten oder abzulenken.
Das hat sich vor allem manifestiert, nachdem ich Mutter wurde. - Ich praktiziere nie auf leeren Magen. Ich brauche Wasser, Kaffee und irgend eine Kleinigkeit zu essen. Das kann eine halbe Banane sein, eine Kiwi, ein kleiner Joghurt, eine Hand voll Nüssen. Irgendwas.
- Ich brauche ein bisschen Zeit zum „anlaufen“. Also stelle ich den Wecker idR mind. eine Stunde bevor ich auf der Matte stehen will.
- Ich muss gewaschen sein und Zähne geputzt haben. Sonst fühlt es sich einfach nicht richtig an.
- Meine Kleidung muss vor allem funktional und bequem sein. Wenn mir ein T-Shirt dauernd ins Gesicht schlabbert oder die Hose nicht sitzt, dann ist das ätzend.
- Eine lange Zeit habe ich nicht direkt mit der Asana Praxis begonnen, sondern bin erst gesessen. Habe geatmet. Bin mental und auch körperlich angekommen. Habe dem Körper ein bisschen Zeit gelassen mit zu sagen, „wo er heute morgen ist“. Seit wir in der Corona-Krise stecken habe ich die Zeit für „diesen Luxus“ einfach nicht. Aber das wird wieder kommen. Ich mag es sehr.
- Ich chante leise für mich. Viele Jahre habe ich laut gechantet. Ich weiss nicht, warum ich es nicht mehr tue. Unbedingt ausprobieren! Sing at the top of your lungs!! and see how it feels!
- Manchmal chante ich gar nicht.
- Da ich Ashtanga Yoga praktiziere, ist der Asanaverlauf im Grunde immer der Gleiche. IdR starte ich mit drei Surya A und drei Surya B. Wenn ich aber merke, dass ich nicht fokussiert bin, oder nicht warm werde, dann werden es eben mehr Sonnengrüße. Es ist ja schliesslich meine Asanapraxis.
- Ich modifiziere die Sonnegrüße von leicht nach schwerer.
- Ich wechsle den Ort an dem ich praktiziere. Häufig wird als „Stütze“ angeraten, DEN EINEN Spot im Zuhause zu finden, der der Yoga Praxis gehört. Für mich funktioniert das nicht. Ich brauche einen Perspektivenwechsel um bei der Sache zu bleiben. Ich habe über die Jahre schon in allen Zimmern unseres Hauses praktiziert, an verschiedenen Stellen, auf verschiedenen Matten, verschieden gedreht auf der Matte usw. Einfach mal ausprobieren!
Mir geht es sogar manchmal so, dass ich mich dabei erwische, wie ich schon fast lustlos die Matte ausrolle und mir denke „Moah, schon wieder….“ – und dann halte ich inne und überlege mir: „Halt mal – ich geh jetzt mal wo anders hin“. Und dann läuft es. - Manchmal praktiziere ich mit Musik. Und dabei gibt es KEINE „no-goes“. Das reicht von Linkin Park über Hang Massive bis hin zu Goa oder Depeche Mode. Das tue ich wirklich nicht immer! Im Gegenteil: Es gibt viele Tage, da geniesse ich die Stille, das Geräusch meines Atems, da brauche ich dieses 100% „mich selbst hören“. Aber es gibt eben auch Tage, das ist die Stille der Einsamkeit zu schwer. Oder das laute Schnarchen meines Hundes zu demotivierend.
- Ich spiele mit Props! Oh mein Gott – ja, das tue ich! Hin und wieder, weil ich einfach das Gefühl habe, dass ich meinem Körper ein paar Stützen geben muss. Hin und wieder einfach auch um mal wieder zu spüren, wie sich das anfühlt!
- Ich variiere die Abfolge und Variante der Asanas! Und bäääm… es ist tatsächlich jetzt gerade KEIN Blitz vom Himmel gefahren! Oftmals ist es ein ZEITFAKTOR! Manchmal ein Lustfaktor. Manchmal sagt mein Körper NEIN, heute nicht. Allerdings will ich hier klar zwei Dinge betonen:
1. Meiner Meinung nach ist das gesunde und sinnvolle Variieren wichtig – aber fast nur möglich, wenn man sich recht gut in der Anatomie der Asanas auskennt und bedacht damit arbeitet (siehe oben: ich will verstehen, was ich tue und warum ich es tue). Gedankenverloren vor sich hin wurschteln führt meiner Erfahrung nach oftmals zu einseitigen Mustern oder gar Verletzungen.
2. Dies tue ich, wenn ich zuhause bin. Alleine. In einem Shala, mit einem Lehrer – da bin ich braver Ashtangi. Sonst ist es so unfassbar schwierig für den Lehrer zu verstehen, was ich da tue und warum… und wo ich überhaupt bin und wo ich hin will und warum ich eigentlich hier bin. - Ich ignoriere die Klingel, das Telefon, die Emails… es ist ein bisschen, wie wenn man früher den Hörer neben das Telefon gelegt hat. Ich kann das gut mit dem Ignorieren. Wem es schwer fällt.. der soll das Handy ausschalten, und Telefon und Klingel ebenso.
- Ich versuche mit realistischen Vorstellungen auf die Matte zu kommen. Das heisst: wenn ich weiss, dass ich einfach nur 30 Minunten habe, dann mache ich mir das klar und plane ein, dass genug Zeit für eine vernünftige Abschlusssequenz und Ruhephase bleibt.
- Ich versuche am Ende mindestens 10 Minuten einzuplanen, die Pranayama und Meditation gehören – bevor ich in die finale Entspannung gehe. Lieber sind mir aber 20 Minuten. Oder mehr. Das war nicht immer so. Das kommt glaube ich jetzt mit dem älter werden.
- Egal was passiert… ich versuche es zuzulassen und mir klar zu machen, dass DAS eben jetzt dieser Moment ist. Mit all seiner Schönheit? Seinem Kampf? Seinem Versagen? Seinem Erfolg? Es ist, wie es ist. Und manchmal weine ich. Und dann lache ich wieder. Es gibt doch kein Richtig oder Falsch.
- Ich stehe von der Matte auf und bin zufrieden. Nicht, weil alles immer „lief“. Das tut es doch nicht! Ich bin zufrieden, weil ich es getan habe. Weil ich einen kleinen Beitrag, der in meiner Macht alleine liegt, dazu beigetragen habe, dass die Welt ein besserer Ort ist – weil ich in ihr ein besserer Mensch sein kann.
Meiner Meinung nach ist in der „Solo Home Practice“ fast alles erlaubt, was dazu beiträgt, dass wir es schaffen, regelmäßig und diszipliniert an unserer ganzheitlichen Yogapraxis zu arbeiten. Nicht, weil die Arme dann straffer sind und der Bauch flacher. Sondern weil wir über die Jahre bessere Mitmenschen werden.
Hinweis
Es handelt sich hier um subjektive Gedanken und Eindrücke der Autorin, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und/oder Richtigkeit erheben. Wir leben in einer subjektiv, individuellen Welt – die absolute Wahrheit gibt es sowieso nicht.